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Von den Großen lernen

Ich klicke, also bin ich? Im Gegenteil: Schon vor Jahrhunderten haben die großen Dichter und Denker zu einer bewussten Mediennutzung geraten. Was würden sie uns heute empfehlen?

Von den Großen lernen

S chon mal was von digitaler Platzangst gehört? Nein? Das ist das Gefühl, sich permanent den Raum mit Millionen anderer Menschen zu teilen, die unentwegt mit uns reden, Fotos zeigen, unsere Fotos kommentieren, uns auffordern, irgendetwas zu liken oder zu unterschreiben, die Geld von uns wollen oder uns welches anbieten... ein endloser Strom von Nachrichten strömt Tag und Nacht auf uns hinab. Kann man dieser Informationsflut entkommen, ohne den Anschluss an seine Umwelt zu verlieren? Wie kann man sich kleine Nischen im ständig überfüllten digitalen Raum schaffen, um in Ruhe durchatmen zu können?

William Powers, der Autor von „Einfach abschalten“, Forscher am MIT Media Lab und ständig vernetzter Mensch, hat sich Hilfe bei den Philosophen der Antike und anderen findigen Köpfen der letzten Jahrhunderte geholt. Und hier sind sie, die Denkanstöße und Tipps der klugen „Bildschirmphilosophen“ für ein besseres digitales Leben...

Sokrates

Sokrates

Im Goldenen Zeitalter der Antike, d.h. etwa Ende des 5. Jahrhunderts v.Chr., war Athen ein Sammelbecken bekannter Künstler, Dichter, Philosophen, Dramatiker, Politiker.... man könnte sagen der Brainpool der mediterranen Welt. Gerade war die Schrift dabei, sich als Kommunikationsmittel gegenüber der mündlichen Erzähltradition durchzusetzen und Sokrates war davon gar nicht begeistert. Er meinte, das Schreiben erlaube den Ideen nicht, frei zu fließen und sich im Moment des Austausches, also im Gespräch, zu entwickeln. Geschriebene Sprache sei unflexibel, eingefroren, nicht in der Lage, neue Ideen hervorzubringen. Sokrates war ein großer Skeptiker gegenüber dem neuen Medium. Diese Ängste haben sich im Rückblick nicht bewahrheitet, spiegeln aber eine generelle Furcht vor neuen Medien und technischen Hilfsmitteln, die wir auch teilweise gegenüber neuen digitalen Medien empfinden.

Platon

Platon

Sokrates' Schüler Platon war da schon wesentlich aufgeschlossener und sah die vielen Möglich­keiten, die verschriftlichte Kommunikation beinhaltete: Die Aufhebung zeitlicher und räumlicher Distanz. Einen geschriebenen Text kann man auch Wochen später exakt re­pro­du­zieren, anders als einen mündlich ge­äußer­ten Gedanken, der irgendwann dem Vergessen anheim fällt. Außerdem kann man nieder­ge­schrie­bene Worte problemlos über weite Distanzen transportieren, wohingegen eine mündlich übermittelte Botschaft immer einen beschränkten Verbreitungsradius hat. Heutzutage nutzen wir die Distanz- und Zeitlosigkeit der neuen Medien, wenn wir statt im Büro zu Hause arbeiten, wenn wir von unterwegs Geschäftsmails beantworten und Anrufe aus dem Zug tätigen. Für keine dieser Tätigkeiten müssen wir wirklich zu unserer Arbeitsstelle fahren, was uns viel Freiheit lässt. Auf der anderen Seite sind wir so durchweg im Online-Modus und für alle erreichbar, dass die räumliche Distanz uns dennoch keinen wirklichen Freiraum ermöglicht, da die Welt uns überallhin folgt.

Platon, ein Freund der Technik, erkannte, dass man sich bewusst Ruhepausen innerhalb schaffen sollte

Platon, ein Freund der neuen Technik, erkannte durchaus diese Ambivalenz der neuen Kommunikationsmittel und wusste, dass man sich bewusst Ruhepausen innerhalb der Erreichbarkeit schaffen sollte, um nicht rund um die Uhr verfügbar sein zu müssen. Ein Tipp von Platon könnte deshalb lauten: Begeben Sie sich ruhig mal einen Tag freiwillig ins digitale Aus, machen Sie z.B. einen Spaziergang ohne Smartphone, sprechen Sie mit den Menschen um Sie herum oder gehen Sie einfach offline für eine bestimmte Zeit. So schaffen Sie eine digitale Distanz zur Welt, die Sie aufatmen lässt und Ihrem Geist die Möglichkeit gibt, zur Ruhe zu kommen. Sie werden sehen, wie erfrischt Sie nach einer kleinen Offline-Auszeit sind!

Seneca

Seneca

Auch Seneca hat sich mit dem Thema „Raum“ beschäftigt, allerdings weniger mit realem, als mit dem inneren Raum. Der Philosoph war ein vielbeschäftigter Mann, Erzieher, Berater und lebte in Rom, der damaligen Macht- und Schaltzentrale des gewaltigen Römischen Reiches. Das Leben dort muss ähnlich hektisch gewesen sein wie im heutigen Berlin oder Paris. Die Schrift hatte sich als Medium völlig etabliert und ermöglichte die Entwicklung verschiedener römischer Gesetze und Verwal­tungs­vorschriften, die bis heute Grundlagen unserer Gesell­schafts­systeme darstellen. Allerdings erlebte Seneca auch bereits die Tücken der Schrift, denn selbst, wenn er dem Wunsch nach Ruhe folgte und seinen Arbeitsort verließ, konnten ihm Nachrichten durch Boten nachgetragen werden. Heutzutage kann man das mit dem Anruf des Chefs vergleichen, der uns am Samstag Morgen aus dem verdienten Wochenendschlaf reißt, um uns schon etwas für Montag aufzutragen – weg ist die Entspannung! Oder die Mail eines ratlosen Kollegen, der uns in unserem Urlaub um Rat bittet, weil das Computersystem mal wieder abgestürzt ist.

Seneca würde Ihnen raten: Konzen­trie­ren Sie sich auf Ihren inneren Raum. Fokussieren Sie Ihre Ziele.

Wo ist der Vorteil von räumlicher Distanz, wenn uns die digitalen Medien doch vernetzt und verbunden mit der Welt lassen? Wie können wir unsere Gedanken lösen von der unendlichen Weite des digitalen Raums, der uns ständig umgibt? Wie lösen wir das Problem der Ruhelosigkeit, die entsteht, wenn wir zum zwanzigsten Mal in einer Stunde unser Postfach kontrollieren, weil wir auf eine wichtige Nachricht von unserem neuen Partner oder einem Geschäftspartner warten, statt uns auf das zu konzentrieren, was wir eigentlich gerade tun: mit einem guten Freund sprechen, etwas kochen, ein Buch lesen. Seneca würde Ihnen raten: Konzentrieren Sie sich auf Ihren inneren Raum. Fokussieren Sie selbst gesetzte Ziele, lassen Sie unnütze Beschäftigungen weg, schalten Sie den „digitalen Lärm“ aus. Wie soll das gehen? Z.B. durch altmodisches Schreiben mit Stift und Papier. Bei dieser Tätigkeit reduzieren wir die Medien auf ein notwendiges Minimum und unser Geist konzentriert sich auf eine Aktivität – das Schreiben. Ähnlich wirksam sind auch andere Tätigkeiten, die wir mit den Händen ausüben, z.B. kochen, stricken, etwas bauen. Wir können aber auch einfach ein gutes Gespräch mit einem Freund im nächsten Café führen – wobei das Smartphone bitte ausgeschaltet werden sollte!

Gutenberg

Gutenberg

Wird ein neues iPhone auf den Markt gebracht, warten die Menschen tagelang vor den Verkaufsstellen, denn neue Kommunika­tions­geräte machen glücklich! Sie sind neu, glänzend, bieten unzählige neue Nutzungsmöglichkeiten und heben uns ab von der breiten Masse der Menschen, die noch mit einem alten Smartphone herumläuft. So möchten wir es zumindest glauben.... Wenn man genau hinsieht, teilen wir natürlich unsere Glücksgefühle mit tausenden anderen Menschen, die gleichzeitig das neue Kommunikationsgerät ergattert haben. Und wir schwimmen auch weiter im Schwarm der digitalen Masse, sind weiter dem ständigen Vernetzungsdruck ausgesetzt, leben ständig auf Abruf und sind zersplittert zwischen verschiedenen, parallel ablaufenden Tätigkeiten (chatten, SMS beantworten, telefonieren, schnell eine Mail wegschicken....). Blicken wir in die Vergangenheit, dann können wir erkennen: neue Kommunikationsmittel besaßen zu jeder Zeit die Ausrichtung nach Außen, weil die Vernetzung mit anderen Menschen für uns immer notwendig war, um zu überleben.

Das würde Gutenberg sagen: Das E‑Book ver­wehrt uns den Zugang zu unserem inneren Raum, da es mit der digi­talen Welt verbunden ist.

Auch das Lesen war anfangs eine sehr extrovertierte Tätigkeit, da Bücher so teuer waren, dass nur wenige Menschen sie sich leisten konnten und man gemeinsam laut las bzw. anderen vorlas. Gutenbergs Erfindung des Massen-Buchdrucks um das Jahr 1450 ermöglichte plötzlich eine sehr viel schnellere und günstigere Buchproduktion und somit auch einen günstigeren Vertrieb von Büchern. Mehr Menschen konnten es sich leisten, Bücher zu kaufen und nur für sich selbst zu lesen. Das Buch wurde zu einem Rückzugsort von der Welt, man fand darin seinen „inneren Raum“. Heute erscheinen die guten alten Bücher fast schon anachronistisch und veraltet gegenüber den praktischen E-Books. Diese bieten offenbar so viele Vorteile: sie sind leichter als Bücher, können auch im Dunkeln gelesen werden, verbrauchen keinen Platz im Regal, die Bäume werden nicht für die Papierproduktion abgeholzt... Alles schön und gut. Aber das würde Gutenberg dazu sagen: Das E-Book verwehrt uns den Zugang zu unserem inneren Raum, da es mit der digitalen Welt verbunden ist. Die interaktiven Möglichkeiten wie Instant-Übersetzungshilfen, Kommentar­funk­tionen und andere Aktivitäten halten den Kontakt zum Online-Raum und lenken unsere Aufmerksamkeit wieder nach Außen statt nach Innen. Wenn wir andere Kommu­ni­ka­tions­mittel der Neuzeit ansehen, werden wir feststellen, dass gerade die uns begeistern, die uns die Möglichkeit zum Rückzug in unser Inneres ermöglichen, z.B. der Walkman bzw. der heutige iPod oder der DVD-Player, der uns erstmals Filmgenuss ohne Werbe­unter­brechungen und Ablenkungen ermöglichte. Neue Technologien können uns also auch helfen, den Weg zu unseren inneren Ruhe­zonen zu finden, wenn wir sie nur richtig nutzen.

Shakespeare

Shakespeare

Haben Sie ein papiernes Notizbuch? Und haben Sie sich nicht schon mal gefragt, wo genau der Reiz dieses eigentlich veralteten, analogen Heftchens liegt? Die Erklärung für unsere eigentlich unerklärliche Begeisterung für klassische Notizbücher finden wir bei Shakespeare. Der große britische Autor lebte im ausgehenden 16. Jahr­hundert in London. Zu dieser Zeit war die Stadt extrem überfüllt, laut und dreckig, die politische Lage war nach dem Bruch König Heinrichs VIII. mit der katholischen Kirche instabil. Der Buchdruck hatte mittlerweile zu einer ungeheuren Verbreitung von Schriftstücken und damit von Infor­mationen geführt. Londons Alltag war voll von Werbung, Pamphleten, Kaufverträgen, Anschlägen... sowie einer ganz neuen Erfindung: Zeitungen. Die Menschen waren beunruhigt durch die vielen Informationen, die um sie herumschwirrten und sie fühlten sich mehr und mehr machtlos gegenüber dieser Flut von neuen Nachrichten. Zu Shakespeares Zeiten war die Antwort darauf die Schreibtafel. Diese Erfindung tauchte erstmals gegen Ende des 15. Jahrhunderts in Europa auf und sah etwas so aus wie „kleine Almanache oder Kalender, auch als Tafelbücher bezeichnet, die leere Seiten aus speziell beschich­tetem Papier oder Pergament enthielten und in jede Tasche passten. Sie wurden mit einem metallenen Stift beschrieben; die Aufzeichnungen konnte man später mit einem Schwamm löschen, die Seiten waren also wiederbeschreibbar.“ („Einfach abschalten“, S. 206). Es handelte sich quasi um ein ausradierbares Notizbuch!

Shakespeare würde Ihnen raten: Schaffen Sie sich ein Tage­buch oder Notiz­buch an, um die täg­liche In­for­mations- und Ge­danken­flut ein­zu­fangen, zu filtern und wieder los­zu­werden

Wir wissen nicht sicher, ob Shakespeare eine solche Schreibtafel besaß, aber es ist sehr wahrscheinlich. Geschäftige Londoner trugen immer Notizbücher bei sich und notierten den ganzen Tag Gedanken, kurze Dialoge, Termine, Einkaufslisten... einfach alles! In Shakespeares Fall ging er wahrscheinlich am Abend alle Einträge nochmals durch und übertrug nur die wichtigsten Fakten in seine richtigen Notizbücher. Er löschte Unwichtiges und bewahrte das Erhaltenswerte. Und genau da liegt der Vorteil von papiernen Notizbüchern in unserer Zeit: Wir können sie tagsüber als „Schwamm“ für all die auf uns einprasselnden Eindrücke und Informationen benutzen. Später können wir unsere Notizen durchgehen, uns erinnern, Wichtiges eventuell in digitale Medien übertragen und somit erhalten, wohingegen Unwichtiges gelöscht oder durchgestrichen wird. Außerdem können wir unsere Aufmerksamkeit in einem Notizbuch gut bündeln, da es – anders als ein Bildschirm – keine Informationen sendet, nicht blinkt und nicht vernetzt ist. Shakespeares würde Ihnen also dringend dazu raten: Schaffen Sie sich ein Tagebuch oder Notizbuch an, um die tägliche Informations- und Gedankenflut einzufangen, zu filtern und wieder loszuwerden. Die Welt und Ihr Geist werden sich verlangsamen und zur Ruhe kommen.

Benjamin Franklin

Benjamin Franklin

Die meisten haben schon mal etwas vom Casual Friday gehört – am letzten Tag der Arbeitswoche können in vielen Firmen die Mitarbeiter in legerer Kleidung ins Büro kommen, um die Arbeits­atmo­sphäre aufzulockern. Aber kennen Sie schon den „E-Mail-freien Freitag“? Nein? Wahrscheinlich kennen Sie ihn deshalb nicht, weil er sich noch nicht durchsetzen konnte. Dieses Projekt wurde in Amerika in einigen Firmen gestartet, um die Mitarbeiter wenigstens an einem Tag der Woche vom beständigen Strom der eintreffenden Mails zu schützen und ihnen die Möglichkeit zu bieten, sich auf andere Arbeiten zu konzentrieren. Allerdings scheiterten alle Versuche, den E-Mail-freien Freitag längerfristig durchzusetzen. Wie kann das sein? Wir alle jammern doch täglich über unser volles Postfach, den ständig blinkenden oder hüpfenden Button, wenn wieder eine neue Nachricht angekommen ist. Wieso freuen wir uns nicht über einen Tag ohne Mails? Benjamin Franklin hat die Antwort darauf: Weil wir nicht selbst vom Nutzen dieser Veränderung überzeugt sind, sondern die Anordnung von oben aus der Chefetage gekommen ist.

Im Grunde ging es Franklin nur darum, durch „Innen­schau“ schlechte Ange­wohn­heiten, die ihn be­lasteten, heraus­zu­finden und durch positive neue Rituale zu ersetzen.

Franklin war ein extrem geschäftiger Mensch, er hatte als Journalist den Spitznamen „busy-boy“, war sehr gesellig, ein Freund des „social networkings“, und sein Liebesleben war eine Anein­ander­reihung teilweise wilder Affären. Er lebte völlig im „Außen“ und erkannte die Wichtigkeit der sozialen Masse für das Individuum. Aber er verstand auch, dass permanente Vernetztheit, ständiges Online-Sein, Verzettelung in unzähligen Aktivitäten uns belastet und unsere Ziele aus den Augen verlieren lässt. Deshalb stellte er für sich ein Programm auf, mit dessen Hilfe er ein „vernünftiges“ Leben führen wollte. D.h. ein Leben, bei dem ihm der Verzicht auf affektive Begierden langfristig mehr Vergnügen bringen würde als allen Affekten sofort willenlos nachzugeben. Klingt kompliziert und trocken, aber im Grunde ging es Franklin nur darum, durch „Innenschau“, schlechte Angewohnheiten, die ihn belasteten, herauszufinden und durch positive neue Rituale zu ersetzen. Für uns könnte das bedeuten: Wenn uns die permanente E-Mail-Flut zu jeder Tages- und Nachtzeit wirklich stört, dann müssen wir etwas dagegen tun. Vielleicht kann man ein Ritual entwickeln, nicht täglich sofort nach dem Aufstehen seinen Posteingang zu checken, sondern erst im Büro. Man kann sich auch bewusst etwas Schönes in der Offline-Welt vornehmen, z.B. einen Spaziergang, einen Kinobesuch, gemeinsames Kochen o.ä., wenn man sowieso den ganzen Tag bei der Arbeit vor dem Bildschirm sitzen muss. Machen Sie sich ein paar Gedanken und gehen Sie ehrlich mit sich ins Gericht, dann finden Sie sicher einige Störfaktoren und auch gute Ideen, wie man diese schlechten Gewohnheiten ändern kann.